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Soziomimikry

Klassenkasse - Vermögen zeigt sich "nicht" an den Kassen

Aktualisiert: 14. Feb. 2024




Eltern geben ihren Kindern im Laufe des sich herausbildenden Lebensweges viele unterschiedliche Dinge und Kompetenzen mit. Die meisten davon sind meiner Meinung nach „nicht sichtbar“. Ich möchte nicht bestreiten, dass sichtbares Geld, das man fassen und erblicken kann, nicht Glück und eine bestimmte Art von Sorglosigkeit bedeutet. Denn ich weiß, wovon ich rede: Ich hatte genügend Vergleichsmöglichkeiten in meinem sozialen Umfeld, die mich immer wieder gelehrt haben, dass Vermögen viele „Gesichter“ hat. Aber es ist nicht das Geld an sich, das an den "Kassen" dieser Welt gegen Güter getauscht wird. Es sind vielmehr die sich daraus ergebenden Potenziale.

Muss ich mehr arbeiten, um erst einmal Geld zu verdienen, bleibt mir weniger Zeit für Investitionen in Kultur, Sozialisierung, Allgemeinbildung und beispielsweise für „Habituskorrektur“ oder "-formung". Andererseits habe ich kaum Zeit, mich mit Freunden und Bekannten zu vernetzen, um meine sozialen Kompetenzen auszubauen und Kontakte mit weiteren Kapitalvarianten zu knüpfen. Wenn du viele Leute kennst, kennst du viele, die dir helfen können – sei es bei der Computerreparatur, dem Streichen einer Wand, beim Umzug oder beim Finden von Wohnraum. Du kennst Menschen, die dir gebrauchte Kleidung für dein Neugeborenes überlassen oder dir die professionellen Fotos für deine Website generieren. Du kannst deine Ausdrucks-, Haltungs- und Sprachkompetenz erweitern, indem du dich ausführlicher und konzentrierter unterhältst, aber auch im Zuhören und Argumentieren übst. Du bleibst informiert über den neuesten Hype, welche Bücher gerade gelesen, welche Musik gehört und welche Wortkonstruktionen aktuell in welchen Informationsblasen verwendet werden. Du kannst dich über die komplexe gesellschaftliche Lage und deren Kausalitäten austauschen. All das erweitert den Bildungsvordergrund, den Fachsprachen-, den Debatten- und Diskursvordergrund und schult die Resilienz für den mehr oder weniger krisenbehafteten Alltag.

Das sind Beispiele aus meiner Lebenswelt; die Themen und Kapitalformen können natürlich variieren. Aber ob es eine Studentin in prekären Jobverhältnissen ist, die ihre Energie in den Brotjob investiert und kaum mehr Kapazitäten und Aufmerksamkeit für anstehende Vorlesungen, Praktika oder Prüfungen hat, oder eine allein- bzw. getrennterziehende Mutter, die morgens nach den ersten Wutanfällen um 7:30 Uhr emotional bereits so erschöpft ist, als hätte sie den ganzen Tag schon durchlebt – bis hierhin zeigen die Beispiele, dass ich noch nicht an einer digitalen oder analogen Kasse im Supermarkt stand und ein Tauschgeschäft eingegangen bin. Hier kommt die Kausalität zwischen ökonomischen Vermögen und einem werteorientierten Leben ins Spiel. Kann ich nach meinen Werten und Vorlieben leben? Kann ich mich gesund ernähren? Kann ich Marken kaufen, die nicht ausbeuten und fair ihre Arbeiter*innen bezahlen? Die Erinnerung an meine Studienzeit zeigt in mir erneut die Bilder auf, bei denen ich mich an den letzten Tagen des Monats von Toastbrot ernährt habe und es für mich einen großen Unterschied machte, ob der Monat 30 oder 31 Tage hatte. Darum könnt ihr euch vorstellen, dass ich den Februar geliebt habe (die Kälte lasse ich jetzt einmal außen vor).

Potenzial für Frust und Abspaltung zeigt sich deutlich. Einerseits im politischen Sinne: Die widersprüchliche Politik, die durch eine ungerechte und oft nicht nachvollziehbare Verteilung von Staatsgeldern nicht allen Teilhabe ermöglicht und oft Vermögende, Wohlhabende, höhere Klassen und Schichten sowie Wirtschaftsunternehmen undurchsichtig subventioniert und begünstigt, führt zur Abspaltung. Die Komplexität der Welt, beispielsweise auf politischer Ebene, zu verstehen und für sich nutzbar zu machen, ist aufgrund von Ressourcenmangel in den unteren Klassen kaum bis gar nicht möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die herrschende und ausbeutende Ungerechtigkeit nicht gefühlt und tagtäglich erlebt wird. Die Auswirkungen sind zeitversetzt und verheerend. Andererseits zeigt sich Abspaltung auch auf persönlicher Ebene: Wenn ich nicht in der Lage bin, mir Bio-Lebensmittel zu leisten, das (E-)Fahrrad aus zeitökonomischen Gründen zu nutzen oder preisstärkere, tierfreie Lebensmittel zu kaufen, entferne ich mich nicht nur von meinen eigenen, persönlichen Werten und dem Bild, wie ich in dieser Welt agieren möchte, sondern auch von den Menschen in meiner Umgebung, die diese Möglichkeiten aufgrund unterschiedlicher Kapitalvarianten haben und sich darüber definieren. Es ist ein Schleier im Alltag, der kontinuierlich psychisch und körperlich gefühlt wird und es ist der damit einhergehende Wunsch, nicht noch mehr Ausgrenzung zu erfahren und unsichtbar mit seiner Armut, seinem Unvermögen, seiner Schuld und seiner Scham durch den Alltag zu diffundieren. All dies sind Rückkopplungsprozesse, die aufeinander einwirken und sich in der Regel verstärken. Soziale Ängste, Einsamkeit und weitere Symptome können die Auswirkung sein.

Viele Akteur*innen der Postmoderne messen dem Kapital der Zeit und der Aufmerksamkeit einen hohen Wert bei. Marktwirtschaftlich ergibt das Sinn, da sie ohne Frage knappe Güter sind. Prekäre Situationen ermöglichen jedoch kaum eine reflektierte und selbstbestimmte Teilhabe an diesen beiden Kapitalvarianten. Zeit zu haben und diese aufmerksam mit Dingen, Tätigkeiten und Menschen zu bereichern, die einen möglichst großen Wohleffekt auf uns haben, ist für Menschen mit ökonomischem Kapital natürlich viel leichter herzustellen und eine unsichtbare, nicht ausgesprochene Selbstverständlichkeit.

Die Möglichkeiten und Ressourcen zu haben, sich werteorientiert in der Gesellschaft partizipativ politisch und/oder ehrenamtlich einzubringen, stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit. Ohne Frage wird dadurch schließlich die ganzheitliche Gesundheit der vermögenden Person auf kultureller, gesellschaftlicher und psychologischer Ebene gestärkt. Für Menschen in Armutsverhältnissen und in prekären Situationen bleibt dafür in der Regel keine Zeit. Dabei braucht gerade diese Personengruppe Möglichkeiten, nicht nur Situationen des Überlebens im Alltag zu erleben, sondern auch Gutes zu tun, werteorientiert leben zu dürfen und Schönheit zu erfahren. Es braucht Zeit und Aufmerksamkeit, sich in dieser Welt zu verorten, um sich zugehörig zu fühlen und in der Lage zu sein, seine Gedanken zu sortieren sowie Argumente und politische Äußerungen einzuordnen.

Leider zeigen Studien, dass gerade Armut (Ressourcenknappheit verschiedener Art) und soziale Abwärtsspiralen zu radikalisiertem Denken und Schlussfolgerungen führen können, die sich spätestens im Wahlergebnis äußern. Hierbei soll jedoch nicht pauschalisiert werden, dass Personen in Armut oder bestimmten sozialen Klassen per se diskriminierend oder nicht in der Lage sind, komplex und multiperspektivisch zu denken. Sie haben oft einfach nicht die Ressourcen, besonders nicht die Zeit, sich über die komplexe Welt und deren Zusammenhänge gründlich und vielseitig zu informieren. Und sie haben nicht die Möglichkeiten, für sich Strategien auszuhandeln, wie sie sich am positivsten und ertragreichsten in der aktuellen Welt verorten könnten und positive Zukunftsszenarien durchzuspielen.



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