Abends, halb acht. Die weite, stille, unspektakuläre Kleinstadtwelt gehört mir. Mir in dieser Wohnung. Ich kann nicht raus. Meine Tochter liegt im Bett, und meine Freiheit ist der Raum zwischen Bett, Küche und Bad. Und das im Winter auch nur bedingt und zeitweilig, weil ich nicht alle Räume heizen kann - es ist zu teuer. Zu teuer mit meinem Teilzeitgehalt. Abends liegt hier die Arbeit für morgen, die Wäsche dreht sich im Trockner, die Spülmaschine klappt auf, und jedes Mal steht die Entscheidung an: Sortiere ich die Ausgaben, korrigiere ich die Arbeiten, oder schreibe ich über meine Situation? Ich erzählte einem Freund einmal von meinem eingeklemmten Gefühl zur Welt, zum Alltag. Ich nannte die Situation prekär. Er lachte und wimmelte mich ab: „Du, du lebst nicht prekär.“ Irgendwie hatte er recht, mit wem ich mich vergleichen würde, wäre ja auch mir überlassen. Aber ich spürte, wie so oft, rein körperlich und darauf aufbauend dann emotional-aggressiv, dass es Ungerechtigkeiten gibt. So viele Jahre mussten vergehen, um zu verstehen, dass mir die Wörter fehlen, die Wörter, die beschreiben können, was es ist, das in mir eingewachsen, festgewachsen und oft verselbstständigt in meinem Leben auftritt. Es ist die Klasse, die mich auf die Bühne der Welten gehen lässt. Auf der einen zerbröckle ich, auf der anderen erhebe ich mich. Aber die meiste Zeit bin ich weit weg. Weit weg von denen, die mich anschauen, die ich anschaue, die reden und die mich reden hören. Ohne es wirklich zu mir selbst artikuliert zu haben, muss ich eingestehen, dass ich weit weg bin von mir selbst. Weiter noch muss ich mir eingestehen, dass ich mir oft sehr schlau vorkam. Wie viele Stigmen habe ich mir selbst auferlegt, wie viel Scham und Schuld habe ich gespürt. Wie oft habe ich mich unzulänglich gefühlt und von vornherein das Gefühl gehabt, ich überschätze mich. Jedes Mal gab es nur die Gabelung „Mach's und sch... auf alle“ oder „Lass es, dann machst du dich auch nicht lächerlich“. Wie oft habe ich euch nicht verstanden, eure Sätze, eure Wörter. Ich habe studiert, trotzdem konnte ich euch nicht verstehen. Ich wollte mich zeigen. „Schaut, ich habe es geschafft. Ich habe studiert. Ich habe eine höhere Position.“ „Schaut her!“ Heute habe ich zum ersten Mal den Mut, mich selbst anzublicken, die Umstände, die Bühne sein zu lassen und selbst zuzuschauen. Zuschauen, wohin mich das Leben bisher geführt hat und führen wird. Die Perspektive wechselt. Das verändert mich. Da erwächst aus mir ein anderer Mensch. Der Scham ins Auge blicken und Mut haben. Ich möchte fusionieren."
Soziomimikry
just running
Aktualisiert: 8. Feb. 2024
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