Definiert ist soziale Ungleichheit beispielsweise als Zustand, in dem bestimmte soziale Gruppen ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben, was sich über längere Zeiträume erstreckt. Dieses Verständnis von Ungleichheit berührt das Kernthema von Pierre Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit, die über den rein materiellen Aspekt hinausgeht. Bourdieu betrachtet die Gesellschaft als einen Markt, auf dem Menschen handeln, tauschen und sich einbringen. Er identifiziert drei Hauptarten von Kapital: ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Jedes dieser Kapitalformen bestimmt die Position einer Person in der sozialen Hierarchie und deren Fähigkeit, auf gesellschaftlicher Ebene zu agieren. Menschen mit höherem Kapitalvolumen genießen mehr Freiheiten und Wahlmöglichkeiten, während diejenigen mit geringerem Kapitalvolumen stärkeren Einschränkungen ausgesetzt sind.
Bourdieu hebt hervor, dass soziale Ungleichheit nicht ausschließlich auf finanzielle Aspekte reduziert werden kann. Seine Analyse des kulturellen Kapitals umfasst weitere Unterkategorien wie linguistisches Kapital und politisches Kapital. Das physische Kapital, das Aussehen und Körperkraft umfasst, spielt ebenfalls eine Rolle. Diese Kapitalformen sind entscheidend für die Positionierung innerhalb des gesellschaftlichen Raumes, den Bourdieu als ein Gefüge verschiedener Positionen beschreibt. Die Sprachfähigkeit scheint dabei besonders wichtig zu sein, da sie die Platzierung innerhalb des sozialen Raumes maßgeblich beeinflusst.
Interessant ist Bourdieus Konzept des Habitus, der die Art und Weise, wie eine Person spricht, sich verhält und kleidet, umfasst. Der Habitus ist ein Ausdruck des kulturellen Kapitals und wird von anderen Menschen erkannt, was wiederum die soziale Integration oder Ausgrenzung beeinflussen kann. Menschen mit hohem Kapitalvolumen erkennen einander und bestimmen, wer zur Gruppe gehört und wer nicht. Dies erschwert den sozialen Aufstieg für Personen aus niedrigeren sozialen Schichten, da sie die ungeschriebenen Regeln und Codes der höheren Schichten nicht kennen.
Bourdieu bricht mit dem Narrativ, dass soziale Ungleichheit ausschließlich auf ökonomisches Kapital zurückzuführen ist. Er betont die Möglichkeit des Transfers zwischen verschiedenen Kapitalsorten, wobei kulturelles Kapital oft in ökonomisches Kapital umgewandelt werden kann. Gleichzeitig zeigt er auf, dass der Besitz finanzieller Mittel allein nicht ausreicht, um in höhere soziale Schichten aufzusteigen, wenn der passende Habitus fehlt, bzw. man oft wieder in seinen alten Habitus zurückfallen kann.
Die Bedeutung von Bildung im Kampf gegen soziale Ungleichheit wird oft hervorgehoben, doch Bourdieu und andere Denker wie A. Humboldt und Bieri betonen, dass Bildung mehr als reine Wissensansammlung ist. Bildung soll ein neues Verhältnis zur eigenen Identität ermöglichen und die Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, den eigenen Habitus zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.
Abschließend stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Herausforderungen sozialer Ungleichheit umgehen soll. Eine offene Gesellschaft produziert zwangsläufig Ungleichheiten, doch es geht um die Schaffung von Chancengleichheit. Bourdieu fordert eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Ungleichheiten, bevor vorschnell auf naturgegebene Unterschiede verwiesen wird. Die Anerkennung und Bewältigung sozialer Ungleichheit ist nicht nur für die Betroffenen wichtig, sondern auch für die Stabilität und Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens insgesamt. Zumindest das Argument des sozialen Friedens sollte für die oberen Klassen ein Argument sein, sich mit dem Thema sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft auseinandersetzen.
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